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Noch aus der Schulzeit ist mir zur Unvollkommenheit des Menschen und seinem Glauben, alles beherrschen zu können, ein Gedicht in Erinnerung. Als ich (an Fasnet eines der vergangenen Jahre) einen früheren Mitschüler traf, Klaus Ummenhofer, kamen wir auch auf den Deutschunterricht zu sprechen. Insbesondere, weil irgendein Ereignis zur Machbarkeit und zum Bestand menschlicher Fantasien umgesetzt in architektonische Höchstleistungen uns darauf führte. Ich glaube, der 11. September 2001 war der Anlass. "Die Brücke am Tay" fiel mir dazu spontan ein. Nachstehender Text-Auszug einer Sendung des Bayrischen Rundfunks vom 28.12.1999 - beschreibt den höher-weiter-größer-Wahn und seine Risiken - wie ich finde - treffend. Die Autorin greift in diesem Zusammenhang auch auf das angesprochene Gedicht zurück, wenn auch aus anderem Anlass:
Die Brücke über den Tay stürzt ein (28.12.1879) AUTORIN: Carola Zinner, RED.: Renate von Walter Gerade haben wir miterlebt (Anm.: Artikel stammt aus 1999) dass die amerikanische Marssonde “Polar Lander” irgendwie verschütt gegangen ist, bzw. ihren Dienst auf dem Mars nicht vorschriftsmäßig aufgenommen hat. Der NASA ist das besonders deshalb so unangenehm, weil sie sich gerade gegen massive Etatkürzungen zur Wehr setzen muss. Wir schließen daraus: Die Technik lässt ihre Getreuen im spannendsten Moment im Stich. Oder, um es mit Fontane auszudrücken: “Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand.” Theodor Fontane starb im Jahre 1898. Er hat also nur wenig von dem Tand zu Gesicht bekommen, der unser heutiges Leben beherrscht: Fontane kannte keine Autos und Flugzeuge, keine kilometerlangen Tunnels, keine sechzigstöckigen Hochhäuser. Auch die Titanic ist eine Konstruktion unseres Jahrhunderts. Und doch gab es auch zu Fontanes Zeiten ein Symbol für die Anfälligkeit gigantischer Konstruktionen: die Brücke über den Tay. Der Tay ist eine breite Meeresbucht im Osten Schottlands. Wer ihn früher überqueren wollte, um beispielsweise von Edinburgh nach Dundee zu gelangen, musste die Fähre benutzen. Doch im Jahre 1878 wurde alles anders: eine Eisengitterkonstruktion spannte sich fast drei Kilometer über das Wasser. Nach den Plänen von Thomas Bough war die längste Brücke der Welt entstanden. Selbst Königin Victoria war darob begeistert: sie erhob Thomas Bough, den jungen Ingenieur der sich mit dem Bau der Brücke einen Lebenstraum erfüllt hatte, in den Adelsstand. 1879 fuhr die Queen zum ersten Mal selbst über den Tay. Ein halbes Jahr später, in der Nacht des 28. Dezember 1879, passierte Unfassbares: “Es war wie ein kometenhafter Ausbruch wilder Funken, von der Lokomotive in die Dunkelheit geschleudert”, berichtete ein Augenzeuge. “In einer langen Spur war der Feuerstrahl zu sehen, bis zu seinem Verlöschen unten in der stürmischen See. Dann herrschte völlige Finsternis.” Die Brücke über den Tay war eingestürzt und hatte einen Zug mit 75 Passagieren mit in die Tiefe gerissen. Am nächsten Tag begann man mit der Suche nach der Unfallursache. Für die Strenggläubigen war die Sache klar: Der 28. Dezember 1879 war ein Sonntag und die Katastrophe nichts anderes als ein mahnender Hinweis des Herrn, die Sonntagsruhe nicht durch Eisenbahnfahren zu entweihen. Mit dieser Deutung jedoch wollte sich der eigens eingesetzte Untersuchungsausschuss nicht zufrieden geben. Nach fünfmonatiger Arbeit benannte er andere Unfallursachen: Ignoranz, technische Fehler und unglaubliche Schlamperei. So war das Eisen der Brückenpfeiler und Trägerbalken von einer so minderwertigen Qualität, dass schon beim Guss Bruchstellen aufgetreten waren; die Arbeiter hatten sie mit einer Mischung aus Bienenwachs und Ruß verschmiert, die wie Gusseisen aussah. Die Folge war, dass bei der fertigen Brücke nach jedem Zug ein paar Eisenteile aus dem Gestänge fielen. Der Brückenwärter hatte das zwar sehr wohl gesehen, doch da er mit Eisenkonstruktionen keinerlei Erfahrung hatte, hatte es ihn nicht weiter irritiert. Die schwerwiegendsten Vorwürfe aber trafen den Brückenbauer selbst. Thomas Bouch, mittlerweile Sir Thomas Bouch, hatte offenbar bei der Berechnung der Brückenstatik die Kräfte von Wind und Wasser völlig außer Acht gelassen. Und als man beim Bau mitten im Strom nicht auf Felsen, sondern auf weichen Schlick traf, hatte er statt solider Ziegelsteinpfeiler leichtere Eisensäulen errichten lassen. Bouch, so befand der Untersuchungsausschuss, trug die Hauptschuld an dem Unfall. Der Ingenieur, der mittlerweile schon am Bau einer Ersatzbrücke arbeitete, wurde entlassen und in Edinburghs Straßen als Mörder angepöbelt. Drei Monate später starb er als gebrochener Mann: Eine tragische Figur, Symbol für menschliche Unvollkommenheit und für den Wahn, immer schneller, immer weiter, immer höher hinaus zu wollen. Die eingangs erwähnten NASA-Wissenschaftler suchen übrigens derzeit angeblich fieberhaft nach Fehlerquellen beim “Polar Lander”. Wir raten von einem eventuellen neuen Versuch ab und empfehlen stattdessen die Lektüre von Theodor Fontanes Ballade “Die Brücke am Tay”: “Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand.”
© Bayerischer Rundfunk, 1999 |